Was, wenn Depression, Angst oder ADHS nicht im Kopf, sondern im Darm beginnen? Eine wachsende Zahl wissenschaftlicher Studien legt nahe, dass eine gestörte Darmflora – auch Dysbiose genannt – eng mit psychischen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen, ADHS, Schizophrenie und Demenz verbunden ist. Das Mikrobiom wirkt dabei nicht nur als Spiegel innerer Vorgänge, sondern als aktiver Mitgestalter – über Neurotransmitterproduktion, Immunregulation und die Kommunikation entlang der Darm-Hirn-Achse.
Depression beginnt oft im Darm

Bei Depression zeigen sich typische Veränderungen im Mikrobiom – u. a. eine verringerte Artenvielfalt, eine gestörte Zusammensetzung sowie ein Rückgang stimmungsrelevanter Keime wie Lactobazillen und Bifidobakterien.
Das Flemish Gut Flora Project ist eine der größten populationsbasierten Mikrobiomstudien Europas. Es untersuchte über 1.100 belgische Erwachsene hinsichtlich ihres Darmmikrobioms und psychischen Wohlbefindens und identifizierte bei depressiven Personen deutlich reduzierte Mengen an Coprococcus– und Dialister-Bakterien. Diese Mikroben sind an der endogenen Synthese von Serotonin und Dopamin (Glückshormone) beteiligt. Parallel dazu fanden sich vermehrt entzündungsfördernde Keime (z. B. Enterobacteriaceae) und eine reduzierte Butyratproduktion – ein Schlüsselfaktor für neuronale Schutzmechanismen (Valles-Colomer et al. 2019).
Angststörungen
Auch bei Angststörungen ist das bakterielle Gleichgewicht gestört. Schützende Arten wie Faecalibacterium und Coprococcus nehmen ab, während Enterococcus und Clostridium zunehmen (Zang et al. 2023). Die Folge: gestörte GABA-Bildung, erhöhte Darmpermeabilität (Leaky Gut), systemische Entzündung und damit gesteigerte Anfälligkeit für Angst- und Panikreaktionen.
ADHS und das Mikrobiom
Kinder mit ADHS zeigen nicht weniger, sondern teilweise mehr mikrobielle Vielfalt – allerdings mit ungünstiger Zusammensetzung. Auffällig sind erhöhte Bacteroidetes-Anteile. Laut Ai et al. (2021) besteht ein Zusammenhang zwischen mütterlicher Antibiotikagabe in der Schwangerschaft und erhöhtem ADHS-Risiko beim Kind. Die frühe mikrobielle Prägung beeinflusst die neuronale Reifung nachhaltig.
Schizophrenie: Darmflora und Neuroinflammation
Auch bei schizophreniformen Störungen wurde eine verminderte bakterielle Diversität beschrieben, insbesondere ein Rückgang an butyratbildenden Arten wie Faecalibacterium prausnitzii. Diese fördern die Darmbarriere und wirken antientzündlich. Ihr Fehlen begünstigt chronische neuroinflammatorische Prozesse – ein möglicher pathogenetischer Mechanismus bei Schizophrenie.
Demenz: Wenn die Darmflora mitaltert

Auch bei Alzheimer-Demenz finden sich signifikante mikrobiotische Veränderungen – etwa ein Rückgang nützlicher Firmicutes und eine Zunahme von Bacteroidetes (Zhuang et al. 2018). Diese Dysbiose ist assoziiert mit oxidativem Stress, systemischer Entzündung und möglicherweise der Bildung amyloider Plaques. Einige Darmkeime können selbst amyloidähnliche Proteine exprimieren – mit potenziellem Einfluss auf die Blut-Hirn-Schranke.
Fazit: Mikrobiomanalyse – neue Perspektiven in Prävention und Therapie
Psychische Erkrankungen gehen häufig mit charakteristischen mikrobiellen Dysbalancen einher. Eine gezielte Mikrobiomanalyse kann individuelle Störungen sichtbar machen und integrative Therapieoptionen eröffnen – sei es zur Begleitung klassischer Behandlungen oder zur Prävention bei familiärer Belastung, chronischem Stress oder wiederkehrenden Beschwerden. Der Blick auf das Mikrobiom eröffnet dabei neue therapeutische Chancen – oft dort, wo herkömmliche Wege an ihre Grenzen stoßen.
Literaturverzeichnis:
Valles-Colomer J. et al. (2019). The neuroactive potential of the human gut microbiota in quality of life and depression. Nature Microbiology. DOI
Zang Y. et al. (2023). Gut microbiota composition in patients with anxiety disorders. Frontiers in Psychiatry. DOI
Ai L. et al. (2021). Maternal antibiotic exposure during pregnancy and risk of ADHD in offspring. European Child & Adolescent Psychiatry. DOI
Zhuang Z. et al. (2018). Altered gut microbiota in individuals with Alzheimer’s disease. Journal of Alzheimer’s Disease. DOI